Warum?

Das Geschehene ist so entsetzlich, dass uns allen die Worte fehlen. Heute, wenige Tage nach den unvorstellbaren Ereignissen, stehen viele Fragen und kaum Antworten im Raum. Einzig klar die Frage: Warum?

Wir sind tief betroffen. Wir trauen um die Menschen, die sinnlos aus dem Leben gerissen wurden. Wir fühlen mit den Angehörigen der Opfer. Wir haben Sorge um unsere Kinder, die Zeugen grausamer Morde an ihren Lehrern und Mitschülern wurden.

Bei allem Schmerz, das Leben wird weiter gehen, das Leben muss weiter gehen. Wir wollen unseren Kindern helfen, die schmerzlichen Ereignisse zu verarbeiten. Wir wollen aber auch nach den Ursachen fragen, um jetzt unserer Verantwortung nachzukommen.

Mir brennen im Moment am meisten folgende Fragen unter den Nägeln:

  • Warum weiß eine Mutter nicht, dass ihr Sohn vom Gymnasium verwiesen wurde, obwohl er in ihrem Haushalt lebt?
  • Wie kann es sein, dass ein Schüler völlig legal in den Besitz von Schusswaffen kommt und sich mit einer Unzahl von Munition eindecken kann?
  • Wie kann es sein, dass in Thüringen ein junger Mensch, der sein Abitur nicht schafft, ins Bodenlose fällt?

Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass sich solch eine Bluttat nicht wiederholen kann.
Bei allem Schmerz kommt aber auch Wut auf. Sensationsjournalisten fallen wie Schmeißfliegen in die Stadt ein. Die polizeilichen Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, da werden schon übelste Gerüchte gestreut. Trauergottesdienste werden als Medienereignisse zelebriert. Beim Anblick der Übertragungswagen am Gutenberg-Gymnasium frage ich mich, welche Reality-Show bei RTL als nächstes geplant wird? „Das Leben ist ein Spiel – wir liefern die Bilder“. Öffentlich-rechtliche Sender, von unseren Steuergeldern und Zwangsbeiträgen finanziert, senden am Abend vom Ort des Geschehens und führen dort einen völlig verstörten Schüler in der ‚Kerner-Show‘ vor. Nicht mal der Ministerpräsident („Thüringens Landesvater“) ist Herr der Lage und schützt sein „Landeskind“ vor den Medien. Zeitungen drucken Namen, Adressen und Bilder von Opfern – schamlos, instinktlos, hemmungslos.

Lasst uns auch gegen diese Missstände in unserer Welt ankämpfen.

Hagen Frey
29. April 2002